Der Freiraum als Funktionsraum
Vor den aktuell spürbaren Auswirkungen der Klimakrise warnen Wissenschaftler*innen bereits seit den 80er Jahren. Und wir sind mittendrin: Europa erwärmt sich doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt¹. Gerade kommt die Klimakrise im Bewusstsein der meisten Menschen an, schon ereilt uns die zweite und nicht minder gefährliche Krise unserer Zeit: die Biodiversitätskrise. Wir befinden uns im menschgemachten, sechsten großen Massenaussterben der Erdgeschichte². Dennoch bleiben notwendige Reaktionen aus oder verpuffen zu oft in Lippenbekenntnissen und Symbolpolitik.
Ein Umdenken, urbane Grünflächen zum neuen Ausgangspunkt von Siedlungsplanung zu machen, ist überfällig. Denn wenn sie erst verschwunden sind, sind sie kaum wiederherstellbar. Städte wie Kopenhagen, Paris oder Wien bieten uns gute Vorbilder, wie alte Strukturen neu gedacht werden können – sei es über Entsiegelungsprogramme oder die Verbesserung der Fahrradmobilität zulasten der autogerechten Stadt. Durch den begrenzten Platz ist die Flächenkonkurrenz in Städten besonders groß, weshalb öffentliche Grünflächen unter dem permanenten Druck Rendite bringender Nutzungen stehen. So sinkt die Gesamtfläche für Flora und Fauna und infolge von Übernutzung auch die Qualität der verbleibenden Flächen – ein Teufelskreis. Dem könnte entgegengewirkt werden, wenn Kommunen punktuell Flächen erwerben, sichern und entwickeln.
Der Wert von Stadtnatur
Doch nur eine intakte Stadtnatur kann die unzähligen Leistungen erbringen, auf die wir angewiesen sind. Stadtnatur leidet selbst bereits stark unter den Folgen von Klima- und Biodiversitätskrise. Brechen zu viele Elemente weg, fallen Ökosysteme wie ein Kartenhaus zusammen. In einem guten Zustand können sie sowohl die Folgen der Klimakrise abmildern als auch einen bedeutsamen Beitrag zur Klimaanpassung, also den nicht mehr vermeidbaren Folgen der Klimaveränderung, leisten. Sie wirken dem urbanen Wärmeinsel- Effekt entgegen, nehmen Niederschlag auf und kühlen ihre Umgebung aktiv durch Verdunstung. Urbanes Grün wirkt als Kohlenstoffsenke, produziert Sauerstoff, verbessert die Frischluftzufuhr und bindet Feinstaubpartikel. Damit trägt es direkt zur Gesunderhaltung der Bewohner*innen bei: Die Feinstaubbelastung etwa fordert deutschlandweit jährlich ca. 47.000 Todesopfer³. Zudem baut Stadtnatur soziale Ungleichheiten ab. Häufig sind jedoch gerade sozial benachteiligte Stadtteile unterdurchschnittlich mit Stadtnatur ausgestattet⁴. Um dem entgegenzuwirken, führt Berlin als bundesweit einzige Stadt einen Umweltgerechtigkeitsatlas. Der NABU fordert sowohl eine flächendeckende Erreichbarkeit von mindestens einem Hektar großen Grünflächen im Umkreis von 300 Metern als auch die Erhöhung des Anteils städtischer Parkanlagen auf 20 Quadratmeter pro Person.
Naturerfahrungsräume bilden für Heranwachsende eine gute Möglichkeit, selbstständig und spielerisch Natur kennen- und verstehen zu lernen⁶. 2021 wurden diese in den Festsetzungskatalog des Baugesetzbuches aufgenommen⁷.
Neben diesen Leistungen haben Siedlungen eine tragende Rolle beim Schutz der Biodiversität, da auf engstem Raum ein großer Strukturreichtum vorherrscht. Es bildet sich ein reichhaltiges Mosaik, bei dem ein Trockenstandort an einer Gleisanlage in unmittelbarer Nähe zu einem intensiv genutzten Park oder einem naturnahen Fließgewässerabschnitt vorkommen kann. Das liefert vielen Arten Ersatzlebensräume und Rückzugsorte, die sie in der freien Landschaft immer seltener finden. Über 20.000 in Berlin vorkommende Tier- und Pflanzenarten dokumentieren das eindrucksvoll⁸.
Naturkontakt erleben, haben im Erwachsenenalter ein höheres Umweltbewusstsein.⁵
Nachhaltige Gestaltung und Sicherung von Freiflächen
Es ist wichtig, möglichst große, zusammenhängende, resiliente und intakte Grünflächen zu schaffen, zu erhalten und zu entwickeln, um von den größtmöglichen Ökosystemleistungen zu profitieren. Dafür müssen die begrenzten Ressourcen urbaner Räume intelligenter und nachhaltiger genutzt werden. Das kann nur mit verbindlichen gesetzlichen und planerischen Vorgaben gelingen. Der Grünverbund kann beispielsweise durch kommunale Grünflächensatzungen gewährleistet werden. Oder man wählt den unkonventionellen Ansatz, ihn durch die Aufstellung von Bebauungsplänen im vereinfachten Verfahren zu sichern.
Gebäudebegrünung
Gebäudegrün ist ein elementarer Baustein einer lebenswerteren Siedlungslandschaft. Bestehende Dächer und Fassaden haben ein riesiges Flächenpotenzial für eine Durchgrünung grauer Bausubstanz. Gebäudebegrünung schafft Lebensräume und Trittsteinbiotope für Tiere, kommt der Lebensqualität und auch dem Geldbeutel zugute: Ein Pilotprojekt in Wien hat gezeigt, dass die Verdunstung der Pflanzen an einer 850 Quadratmeter großen Fassade einer Kühlleistung von etwa 45 Klimaanlagen entsprach⁹. Der winterliche Wärmeverlust des Gebäudes wurde um bis zu 50 Prozent gemindert. Einige Kommunen wie beispielsweise Bremen machen eine Dachbegrünung bereits zur Pflicht¹⁰.
Dass der Siedlungsbereich als großräumliche Einheit zu sehen ist, zeigt der Zusammenhang zwischen Freiraum- und Mobilitätswende. Die Abkehr von der autogerechten, ineffizient genutzten Stadt hin zu mehr ÖPNV und Radverkehr bietet großes Potenzial für Wohlbefinden, Klimaanpassung und Biodiversität – wenn die frei werdenden Flächen zurückgebaut werden. Doch nicht nur systemische Änderungen wirken sich aus, sondern auch eher unscheinbare Veränderungen. Das können, wie im Beispiel Leipzigs, Hunderte begrünte Dächer von Haltestellen sein oder auch Gleisbettbegrünungen, die den Oberflächenabfluss bei Niederschlägen sowie die Lärmemission vorbeifahrender Schienenfahrzeuge reduzieren und Lebensraum für Insekten bieten.¹¹ ¹²
Neben der Quantität spielt auch die Qualität von Grünflächen eine große Rolle. Wir können es uns nicht mehr leisten, Vegetation lediglich zur räumlichen Trennung zu nutzen und entsprechend zu gestalten. Statt „Abstandsgrün“ brauchen wir lebendige, vielfältige und resiliente Stadtnatur. Für viele Kommunen sind knappe Pflegebudgets eine große Herausforderung.¹³ Intensive oder unsachgemäße Grünflächenpflege und monotone Gestaltung wirken sich negativ auf Arten- und Biotopvielfalt aus. Nicht an Vegetations- oder Brutperioden angepasste Pflegezeiträume, zu häufiges Mähen oder invasiver Gehölzrückschnitt sowie der Einsatz von Laubbläsern oder Mährobotern steigern das Verletzungs- und Tötungsrisiko von Tieren, rauben wichtige Nahrungsquellen und Überwinterungsmöglichkeiten.
Siedlungsplanung und Fehler der Vergangenheit
Bisheriger Ausgangspunkt von Siedlungsplanung war gebaute Umwelt. Es ging um die nicht gleichberechtigte Frage, wie sich Grünflächen um Gebäude, Straßen und Infrastruktur anordnen lassen. Die „Betonierung“ des besiedelten Raumes, der resultierende absolute Mangel an Grünflächen und die spürbaren Folgen dessen machen deutlich, dass sich diese Betrachtungsweise zugunsten von Grünflächen verschieben muss. Sie müssen in das Zentrum der Siedlungsplanung rücken und erhalten, geschützt und verbessert werden – schlicht, um unser eigenes Überleben zu sichern. Die von der Weltgesundheitsorganisation vorgenomme Einstufung der Klimakrise als größte Gesundheitsbedrohung für die Menschen im 21. Jahrhundert muss Warnung genug sein¹⁴.
Wenn wir über schwindende Grünflächen sprechen, müssen wir auch die Gründe für deren Verlust thematisieren, die vielfach im Wohnungsbau einschließlich der benötigten Infrastruktur liegen. Jüngst forderte Bundeskanzler Olaf Scholz vollkommen aus der Zeit gefallen einen „Bauboom wie in den 70ern“ und mehr Bauland auf der grünen Wiese¹⁵. Mit einem neuen § 246e BauGB will die Regierung eine Generalbefreiung vom Baugesetzbuch auf den Weg bringen, die Gift für unsere Umwelt, unsere Siedlungskultur und unsere Gesellschaft ist¹⁶. Das Mantra „Bauen, bauen, bauen“ – ohne Differenzierung wo, für wen und in welcher Qualität – ignoriert die wahren Gründe für den propagierten Wohnungsmangel¹⁷. Zu gern verweist die Politik mit Unterstützung der Baubranche auf die nackten Zahlen der schwächelnden Bauwirtschaft.
Bei dieser Betrachtungsweise wird der Blick von den viel wichtigeren Zahlen abgewendet: Deutschlandweit sind 900.000 Wohnungen bereits genehmigt, aber noch nicht gebaut¹⁸. Die Ursachen liegen in hohen Zinsen, Inflation und Fachkräftemangel. Die TU Darmstadt sieht allein in den Kernlagen von Deutschlands Kommunen ein Nachverdichtungspotenzial von über 2,3 Mio. Wohnungen durch Aufstockungen und Umnutzungen von Wohn- und Gewerbegebäuden im Bestand¹⁹. Das macht deutlich, dass nicht der Mangel an Bauland oder die Dauer von Genehmigungsprozessen die Hauptgründe für den Wohnraummangel sind, sondern dass Grundstückseigentümer*innen und Investor*innen auf renditestärkere Zeiten spekulieren. Wenn der Motor der Bauwirtschaft stottert, dann nur, weil er im falschen Gelände gefahren wird: die Lösungen liegen im Bestand. Deutschland ist bereits fertig gebaut, nun muss es um die Optimierung dieser Ressourcen gehen. Dafür braucht es statt der bisherigen Neubaukultur eine Umbaukultur – schon allein aus unserer Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen²⁰.
Denn wie schon Fritz Schumacher, Hamburgs bedeutendster Stadtplaner, feststellte: „Bauflächen entstehen auch, wenn man sich nicht um sie kümmert. Freiflächen verschwinden, wenn man sich nicht um sie kümmert.“
BIOGRAFIE
Stefan Petzold ist Referent für Siedlungsentwicklung und Stadtnatur bei NABU e.V. Vor über 120 Jahren als Bund für Vogelschutz gegründet, widmet sich der Naturschutzbund Deutschland inzwischen allen Bereichen der Natur und Umwelt. Petzold studierte Landschaftsarchitektur an der TU Dresden und war bei unterschiedlichen Planungsbüros tätig, bevor er 2019 zum mitgliederstärksten deutschen Umweltverband wechselte.
1 EEA Report No 1/2024 European Climate Risk Assessment —European Environment Agency (europa.eu)
2 IPBES, 2019 ipbes_global_assessment_report_summary_for_policymakers.pdf
3 Scherer D., Fehrenbach U., Lakes T., Lauf S., Meier F., Schuster C. (2013): Quantification of heat-stress related mortality hazard, vulnerability and risk in Berlin, Germany. Die Erde 144 (3/4): 260–273.
4 Naturkapital Deutschland – TEEB DE (2016): Ökosystemleistungen in der Stadt – Gesundheit schützen und Lebensqualität erhöhen. Hrsg. von Ingo Kowarik
5 Raĭt, A. G., & Lude, A. (2014). Startkapital Natur: wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München: oekom Verlag.
6 Was sind Naturerfahrungsräume? – Stiftung Naturschutz Berlin (stiftung-naturschutz.de)
7 §9 Abs. 1 Nr. 15 BauGB
8 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2019): Masterplan Stadtnatur. Maßnahmenprogramm der Bundesregierung für eine lebendige Stadt. Berlin.
9 Enzi, Scharf, 2018. Naturnahe Prozesse sparen bis zu 90 Prozent elektrische Energie: Beschattung und Kühlung von Gebäuden mit Regenwasser – NEUE LANDSCHAFT
10 Begrünungsortsgesetz Bremen, 2023
11 Moderne Wartehäuschen für Leipzigs Haltestellen – Stadt Leipzig
12 gruengleisnetzwerk.de/images/downloads/wirkung.pdf
13 Kreutz S. Online-Befragung-UF_Auswertung-Kurzfassung.pdf. URBANE FREIRÄUME Qualifizierung, Rückgewinnung und Sicherung urbaner Frei- und Grünräume. Auswertung der Online-Befragung, Befragungszeitraum vom 27.4. bis 31.5.2016. Kurzfassung. Aufgerufen am 3. November 2023. https://www.hcu-hamburg.de/fileadmin/documents/Professoren_und_Mitarbeiter/ Projektentwicklung__-management/Forschung/Online-Befragung-UF_Auswertung- Kurzfassung.pdf
14 WHO, 2021 Climate change (who.int)
15 13.11.2023 Zu wenig Wohnraum:
Scholz will Bauboom „wie in den 70ern“ | tagesschau.de
16 Pressemitteilung NABU 31.01.2024 „Bau-Turbo setzt falsche Anreize“ NABU – Naturschutzbund Deutschland e.V. /
17 2020 BMWSB – Startseite – Bundesinnenminister Horst Seehofer:
Bauen, bauen, bauen!
18 0,6 % mehr neue Wohnungen im Jahr 2022 – Statistisches Bundesamt (destatis.de) 19 tu-darmstadt.de/media/daa_responsives_design/01_die_universitaet_medien/ aktuelles_6/pressemeldungen/2019_3/Tichelmann_Deutschlandstudie_2019.pdf
20 Baukulturbericht 2022, S. 16