Freiraum für die ganze Gesellschaft
verbinden mit dem Begriff „feministisch“ etwas, das „für Frauen ist“, also im Umkehrschluss „nichts für Männer“. Wiederum andere finden, die Sache mit der Gleichstellung (oder Gleichberechtigung) sei (in Deutschland) erreicht, also brauche es auch keine „feministische“, also auf Frauen ausgerichtete Stadtplanung (mehr).
Zunächst ein paar Worte zur Begriffsklärung: Es ist korrekt, dass die feministische Bewegung ihren Ursprung im Kampf für Frauenrechte hat und dies auch weiterhin wichtig ist, gerade auch aus einer globalen Perspektive und vor allem auch, weil Frauen zwar keine Minderheit sind, sondern rund 50 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen – aber dennoch marginalisiert werden. Allerdings hat sich die feministische Bewegung weiterentwickelt und engagiert sich nun gegen alle Formen der Unterdrückung und Marginalisierung¹. Vor diesem Hintergrund bedeutet das Aufsetzen der „feministischen Brille“ vor allem die Anwendung eines Werkzeugs zur Analyse von Ungerechtigkeiten und zur Aufdeckung von Machtstrukturen. Dazu gehören Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus und Klassismus, was sich sowohl strukturell als auch individuell, also gegen einzelne Personen, im Alltag äußert. Feminismus bedeutet daher auch, Visionen für eine gleichberechtigte und gerechte Gesellschaft zu formulieren, in der alle Menschen frei von Unterdrückung, Marginalisierung und Ausgrenzung leben². Das ist eine radikale Umkehr von dem, was wir heute haben: ein System, das so entworfen worden ist, dass die meisten scheitern – Frauen, Mädchen und Kinder insgesamt, ältere Menschen, körperlich eingeschränkte Menschen, Schwarze Menschen, um nur einige Gruppen zu nennen. Sind Menschen mehrfach benachteiligt, spricht man von postkolonialer Intersektionalität³. Heutige Gesellschaften, ihre Städte und Räume sind nach wie vor auf den körperlich gesunden Weißen Mann zwischen 15 und 60 Jahren ausgelegt. Man denke nur an Le Corbusiers Modulor oder Medikamentendosierungen, die auf Grundlage von Tests vorwiegend an mittelalten Männern empfohlen werden. Diese Bevölkerungsgruppe sieht naturgemäß wenig Handlungsbedarf, denn für sie funktionieren die Welt, die Gesellschaft, die Stadt und ihre Räume. Auf alle anderen trifft das nicht zu. Diese Erkenntnis ist zentral.
Einseitige Planung
Heutige Städte sind größtenteils von (Weißen) Männern geplant und umgesetzt worden, direkt und indirekt. Dasselbe gilt für viele Baugesetze und Stadtplanungsinstrumente, zumal die Stadtplanung als Disziplin in und für lange Zeiträume arbeitet. Entsprechend zäh sind Transformationen. Oft müssen nicht nur (teure) bauliche Maßnahmen ergriffen werden, sondern auch die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Die genannten marginalisierten Gruppen verfügen in den politischen Prozessen kaum über Lobbys, zumal sie sich dafür einsetzen müssen, auf bestehende räumliche Ungerechtigkeiten oder Unzulänglichkeiten hinzuweisen, die nicht als solche gelten, sondern als das Resultat „universeller Stadtplanung“. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Genderblindheit. Tatsächlich universelle Stadtplanung wäre allerdings eine, die für alle Bevölkerungsgruppen funktioniert.
Wie kommen wir zum Ziel? Welche Prozesse und Maßnahmen sind nötig? Vorneweg: Es gibt einige Städte respektive Stadtverwaltungen, die sich an dem Thema abarbeiten, teilweise schon länger, dazu gehören Wien, in Deutschland auch Berlin und München. Zu den aktuellen Flaggschiffen zeitgenössischer Stadtplanung in Europa zählen sicherlich Barcelona und Paris – und es ist kein Zufall, dass diese beiden Städte von Frauen als Oberbürgermeisterinnen regiert werden. Es ist auch kein Zufall, dass vor allem große Städte hier vorangehen, weil sie im Gegensatz zu den vielen kleineren und kleinen Städten über personell gut ausgestattete Stadtplanungsämter verfügen und häufig auch über progressive, sich der skizzierten Probleme bewusste Mehrheiten in Parlament und/oder Regierung.
Stadtplanung braucht Politik und Gesellschaft
Es wird aber in diesem Zusammenhang auch klar, dass Stadtplanung nicht lösen kann, was Politik und Gesellschaft nicht bereit sind anzugehen. Dazu gehört das Festzurren von Geschlechterrollen. Es sind nach wie vor die Frauen, denen die (Haupt-)Verantwortung für Haushalt, Familie und Pflege von Angehörigen zugemutet wird, auch in Deutschland. Frauen wenden hierzulande jeden Tag 52 Prozent mehr Zeit für unbezahlte, sogenannte Care-Work auf als Männer⁴. Dies ist denn auch einer der Ansatzpunkte für gendergerechte Stadtplanung: Städte, deren Räume und Infrastrukturen für Menschen, also zumeist Frauen, mit Betreuungspflichten von Kindern, älteren Menschen, kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen ohne jede Einschränkung und Gefahr nutzbar sind. Besonders progressive Stadtplanungsprozesse, darunter fällt der theoretisch nicht scharf umrissene Ansatz der „fair geteilten Stadt“⁵, berücksichtigen explizit die Bedürfnisse von „Care Givers“ (Betreuungspersonen) und „Care Takers“⁶ (zu betreuende Personen). Das ist zum einen progressiv, weil wir gerade in Europa mit älteren Gesellschaften konfrontiert sind und weil wir zum anderen danach streben sollten, die Familien-, Versorgungs- und Erwerbsarbeit auf vielen Schultern gleichmäßiger zu verteilen.
Blicke durch die feministische Brille
Um herauszufinden, ob wir denn im Jahre 2024 in gendergerechten Städten leben, kann sich jede*r die imaginäre feministische Brille aufsetzen, beispielsweise wenn er*sie spätabends auf den Bus wartet. Fühle ich mich sicher? Wie lange dauert es, bis der Bus kommt? Komme ich auch mit einer Beinverletzung in den Bus? Wie wäre es für meine Tochter? Wie wäre es für meine Mutter? Könnte ich meine Großmutter oder meinen Großvater mitnehmen? Entsprechend sind die übergeordneten Themenfelder von feministischer Stadtplanung: Erreichbarkeit, Zugänglichkeit, Sicherheit, Bezahlbarkeit, aber auch Einsehbarkeit und in manchen Fällen das Gegenteil, nämlich Privatheit und Schutz. Ein erster, wichtiger Schritt in Richtung gendergerechte Städte, Räume und Infrastrukturen sind Prozesse, die die Bedürfnisse von allen Bevölkerungsgruppen abbilden. Dies kann durch Beobachtungen und Befragungen geschehen. Das ist zwar zeit- und personalintensiv, also mit Kosten verbunden, lohnt sich aber, da Städte für eine lange Zeit gebaut werden und langfristig gesellschaftliche Prozesse beeinflussen, was wiederum die Folgekosten von ungünstig geplanten und gebauten, also nicht gendergerechten Städten senkt.
Menschen mit Betreuungs- und Sorgepflichten, aktuell zumeist Frauen, nutzen die Stadt anders. Sie legen aufgrund ihres komplexen Alltags zwischen Familien- und Erwerbsarbeit mehr, dafür kürzere Strecken zurück und bewegen sich häufiger zu Fuß⁷. Viele Städte leiden aber nach wie vor unter der modernistisch geprägten Funktionentrennung zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit sowie ungenügenden öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen, die, wenn überhaupt vorhanden, auf den klassischen Pendler*innenverkehr ausgelegt sind, d.h. Personen mit Betreuungspflichten und Mobilitätseinschränkungen benachteiligt. Kinder, alte Menschen und Personen mit kleinen Kindern legen in zehn Minuten 420 Meter zurück, während erwachsene Männer und Frauen in derselben Zeit 780 bis über 1000 Meter zurücklegen.⁸ Daraus lässt sich beispielsweise für die gendergerechte Stadtplanung ableiten, dass es variantenreiche, kleinteilige und vernetzte Grün- und öffentliche Räume sowie gut durchmischte Stadtquartiere braucht, wenn Politik und Gesellschaft die Voraussetzungen schaffen möchten, dass Familien- und Erwerbsarbeit vereinbar ist. Daraus wiederum ist abzuleiten, dass eine polyzentrale Stadtstruktur günstiger ist als eine Stadtstruktur mit einem oder wenigen Zentren, wo sich alle wichtigen Funktionen konzentrieren – inklusive Arbeitsplätzen, Bildungs- und Kulturangeboten.
Kurze Wege, grüne Räume
Die sogenannte Stadt der kurzen Wege (auch 5-, 10- oder 15-Minuten-Stadt) wird derzeit richtigerweise vielerorts zur Planungsmaxime erklärt, ist aber im Prinzip ein uraltes feministisches Anliegen, weil nur so Erwerbs-, Versorgungs- und Familienarbeit unter einen Hut gebracht werden können. Die Stadt der kurzen Wege impliziert auch die Notwendigkeit qualitativ hochstehender öffentlicher Räume, denn viele gesellschaftliche Gruppen können keine langen Wege zurücklegen, um auf einer Parkbank frische Luft zu schnappen, und nicht alle können sich teure Wohnungen mit schönen privaten Außenräumen leisten, insbesondere nicht alleinstehende ältere Frauen oder alleinerziehende Mütter. Aus dem gleichen Grund gehört zu gendergerechter Stadtplanung ein hochwertiger öffentlicher Verkehr mit Tarif- und Fahrplanstrukturen, der nicht nur auf Pendler*innen, körperlich gesunde, junge oder gut verdienende Personen ausgerichtet ist. Insbesondere Letztere können im Bedarfsfall auf Taxis oder einen Privat-Pkw ausweichen. Weitere Anliegen sind gut gestaltete, gut beleuchtete, gut verschattete und möglichst barrierefreie Straßenräume, da diese zu den wichtigsten und dennoch oft unterschätzten respektive wenig wertgeschätzten öffentlichen Räumen gehören.
Tatsächlich aber kann man das Anliegen feministischer und gendergerechter Stadtplanung griffig mit „Alltagstauglichkeit“ umschreiben, sei es beim Planen und Entwerfen von Grün- und öffentlichen Räumen, von Verkehrsinfrastrukturen, von öffentlichen Gebäuden oder von Wohnungsbauten. Mit dieser Fragestellung vor Augen – kann es im Alltag für jede*n funktionieren, mit allem, was zu einem gelebten Alltag gehört? – sollten aktuelle und künftige Städtebau- und Stadtplanungsprojekte angegangen werden, unabhängig davon, ob es um Transformations- oder Neubauprojekte geht. Das Wunderbare an der Alltagstauglichkeit ist, dass sie gerade auch als Leitgedanke für zeitgenössischen Städtebau und Stadtplanung im sogenannten globalen Süden funktioniert.⁹
BIOGRAFIE
Fabienne Hoelzel studierte Architektur in ihrem Heimatland Schweiz sowie in den USA und war im Anschluss unter anderem bei Herzog & de Meuron sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ETH Zürich tätig. 2013 gründete sie FABULOUS URBAN, ein Think Tank und Stadtplanungsbüro, das in südlichen Regionen aktiv ist und einen forschungsgeleiteten sowie aktivistischen Entwurfsansatz verfolgt. Seit 2017 lehrt sie als Professorin für Entwerfen + Städtebau an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.
1 Vgl. Lunz, Kristina: Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Wie globale Krisen gelöst werden müssen, 2023
2 Vgl. Eddo-Lodge, Reni: Why I’m No Longer Talking to White People About Race, 2018
3 Vgl. Mollett, Sharlene und Faria, Caroline: “Messing with gender in feminist political ecology.“ In: Geoforum, 45, 2013, S. 116-125
4 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.
5 Vgl. Heinrich Böll Stiftung (hbs): Feministische Anforderungen an eine geschlechtergerechte und nachhaltige Stadtentwicklung. Die Stadt der Möglichkeiten für alle, 2022
6 Vgl. Tbilisi City Hall und Asian Development Bank (ADB): Fair Shared City. Guidelines For Socially Inclusive And Gender-Responsive Residential Development, 2022
7 Vgl. Bundesministerium für Digitales und Verkehr (früher: für Verkehr und digitale Infrastruktur) (BMDV): Mobilität in Deutschland – MiD, 2019
8 Vgl. Stadtentwicklung Wien: Handbuch. Gender Mainstreaming in der Stadtplanung und Stadtentwicklung, Stadtentwicklung und Stadtplanung, 2013
9 Vgl. Hoelzel, Fabienne: „Wunder Lagos“. In: Modulor, 03/2023, S. 20-33