Autor
Prof. Martin Haas
31.01.2025

Warum gute Architektur intelligente Freiraumplanung braucht

Interview mit Prof. Martin Haas, Mitbegründer und Vizepräsident des DGNB und Mitgründer des Architekturbüros haascookzemmrich Studio 2050.
Als Architekt und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V. (DGNB) prägt Martin Haas seit Jahrzehnten die Diskussion um nachhaltige Baukultur und innovative Architektur. Freiräume betrachtet er dabei als unverzichtbare Grundlage, um Städte klimaresilient, lebenswert und zukunftsfähig zu gestalten.
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Freiraumwende dringend nötig

Warum ist eine Freiraumwende Ihrer Meinung nach unerlässlich für die Zukunft der Städte?

Die Freiraumwende ist für mich eines der wichtigsten Themen, wenn es um eine resiliente Zukunft unserer gebauten Umwelt geht. Hierfür haben wir zwei Aufgaben zu erfüllen: Zum einen haben wir uns mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, die da sind. Zum anderen haben wir zu verhindern, dass es schlimmer wird. Da hat das Gebäude sicher auch einen großen Wert, die Freianlagen aber haben noch einen viel höheren.

Bei der Anpassungsfähigkeit unserer gebauten Umwelt beschäftigt uns insbesondere die Frage, wie wir zukünftig mit Starkregen- und generell Extremwetterereignissen umgehen können. Aber auch, wie wir unsere Städte biodiverser und generell resilienter gestalten können. Durch diese Fragen ist ein zwingender und notwendiger Motor in diese Bewegung gekommen – das ist für mich die Wende. Die Freianlage hat durch diese Dringlichkeit einen neuen Stellenwert erhalten.

Der Freiraum liefert das komplette Presetting für das Mikroklima eines Gebäudes. Durch eine intelligente Freiraumplanung kann ich viel verbessern.
Prof. Martin Haas,
haascookzemmrich STUDIO 2050
Das begehbare Dach auf dem Rapunzelgebäude bietet Besuchern einen beeindruckenden Ausblick.
Das begehbare Dach auf dem Rapunzelgebäude bietet Besuchern einen beeindruckenden Ausblick.
Foto:
Markus Guhl

Der Geist des Ortes

Wie integrieren Sie den Freiraum in Ihre Architekturplanung und wie beeinflusst er das gesamte Design des Projekts?

Für uns ist der Freiraum in unserer Arbeit ein großes Thema und integraler Bestandteil einer Hochbauplanung – das hat auch mit unserer Agenda des nachhaltigen Bauens zu tun. Aus diesem Grund arbeiten wir bei unseren Projekten von Anfang an gemeinschaftlich mit Freiraumplaner und Freiraumplanerin zusammen.

Der Freiraum liefert das komplette Presetting für das Mikroklima eines Gebäudes. Durch eine intelligente Freiraumplanung kann ich viel verbessern.

Ist bei den ganzen Kriterien, die der Freiraum mittlerweile einfordert, überhaupt noch Platz für klassisches Design?

Diese Frage stellt sich uns so gar nicht. Nehmen wir hier zum Beispiel das Rapunzel Besucherzentrum in Legau. Bei den Terminen vor Ort während der Konzeptphase bemerkten wir, dass sie dort eine hohe Schneelast haben. Daraus sind dann Designideen wie das massive begehbare Dach entstanden, von dem man bis in die Alpen schauen kann. Auch in früheren Zeiten wurde ein Gebäude häufig nicht als losgelöstes Objekt betrachtet, sondern als Reaktion auf eine Situation vor Ort – den genius loci (Geist des Ortes), wie es so schön heißt. Insofern kann ich persönlich als Architekt mein Design gar nicht ohne diesen genius loci entwickeln; er ist Teil meiner Inspiration.

Ein Architekt, der sich davon entkoppelt, wird sein entworfenes Objekt immer wichtiger sehen – aber das ist nicht unsere Arbeitsmethodik. Natürlich kommt es vor, dass ich die Freianlage als übergeordnetes Designmoment behandle. Wenn ich zum Beispiel in einem hochstädtischen Kontext mit lauter versiegelten Flächen ein niedriges Gebäude entwerfe, dann hat das Dach ein unglaubliches Potenzial. Dort kann dann das passieren, was im Erdgeschoss nicht stattfinden kann – ein Freiraum entstehen. Es kann also auch gerade das Gegenteil sein, dass erst mit der Kenntnis, was Freiraum kann, Entwurfsmöglichkeiten entstehen können.

Freiraumplanung kann mehr als Hübsch machen

Wie gestaltet sich denn der Arbeitsprozess bei der Zusammenarbeit mit Landschaftsplanern in Ihrem Architekturbüro? An welchem Punkt im Entwurfsprozess treten sie in das Projekt ein und wie gestaltet sich von dort aus der gemeinsame Arbeitsprozess?

Wir erleben häufig, dass viele Freianlagenplaner es gar nicht gewohnt sind und Schwierigkeiten damit haben, wenn wir ihnen kein fertiges Haus hinlegen und sagen: „So, jetzt macht es mal hübsch und setzt ein paar Bäume dahin.“ Das ist die Arbeitsweise, die sie gewohnt sind.

Stattdessen beginnen wir die gemeinsame Arbeit ohne Entwurf und entwickeln gemeinsam mit den Landschaftsplanern eine Kriterienliste. Inzwischen gibt es aus Freianlagensicht sehr viele Themen, die wir für das Gebäude beachten müssen, die nichts mit der Gestaltung zu tun haben, sondern mit Aufheizeffekten, natürlicher Verschattung oder resilienter Begrünung. Zentral steht mittlerweile auch die Frage, wie wir mit den beinahe jährlich stattfindenden, sogenannten tausendjährigen Regenwasserereignissen umgehen wollen.

Früher wurde die Freiraumplanung, wie auch die Innenarchitektur, als die Disziplin zum Hübschmachen betrachtet. Seitdem hat der Stellenwert von Freianlagen stark zugenommen. Ich kenne kaum noch Wettbewerbsverfahren, die ohne Freianlagenplanung funktionieren. Aber die inhaltliche Komponente der Freiraumgestaltung und dass dies Teil unserer gebauten Umwelt und damit Teil unserer Lebensform und Wirklichkeit ist, das muss noch mehr in die Köpfe einsickern.

Ein Umdenken, das einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen durchaus vor Herausforderungen stellt…

Unter Architekten ist es eine sehr gängige Praxis, das Haus als Objekt zu begreifen. Das fängt schon in der Universität an. Wenn unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neu in unser Büro kommen, müssen wir ihnen erst einmal beibringen, ihren Fokus zu erweitern und nicht mit der Umrisslinie ein Stück weißes Blatt zu lassen, für das dann irgendwann der Freianlagenplaner kommt. Das ist ein permanentes Lernen und Sich-Öffnen. Wir profitieren vom Know-how des anderen. Zusätzlich sind wir, was die ästhetische Wirksamkeit angeht, kein Büro, bei dem der Gestaltungswunsch, der sich im Haus widerspiegelt, auf die Landschaft übertragen werden muss. Es darf Brüche geben, und oft bereichern uns diese sogar. Wir sind niemand, der einem Landschaftsplaner etwas vorgeben will. Aber auch das ist durch die gute Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Freianlagenplanung nie ein Thema gewesen.

Für mich gehört zu einem guten Haus immer dieser Außenbezug dazu. Es ist wie im eigenen Zuhause: Sobald es geht, befindet man sich auf der Terrasse, auf dem Balkon oder irgendwo in diesen Zwischenzonen – nicht innen, nicht außen. Genau dort, wo beides zusammenkommt, ist der Ort, an dem sich architektonische Qualität am ehesten manifestiert. Deswegen legen wir darauf auch ein ganz besonderes Augenmerk.

Bei der Gestaltung des Musikzentrum in Ventils arbeite Martin Haas eng mit den Landschaftsarchitekten zusammen.
Foto:
Adam Mork
Die Alnatura Arbeitswelt nutze zahlreiche Effekte der Natur zur Abkühlung.
Foto:
Brigida Gonzales

Die Effekte der Natur nutzen

Für den Alnatura Campus in Darmstadt haben Sie den Freiraum strategisch genutzt, um das Mikroklima des Gebäudes zu beeinflussen. Wie haben Sie die örtliche Natur in den Entwurfsprozess integriert?

Beim Alnatura Campus wollten wir die Effekte der Natur nutzen. Das Gelände liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Wald – eine perfekte Klimaquelle für Frischluft. Zusätzlich entsteht im Wald durch die Verdunstungskälte ein Temperaturdelta von bis zu fünf Grad. Durch einen Erdkanal haben wir diese frische und kühle Luft ins Gebäude geholt. Damit haben wir eine natürliche Lösung für das Aufheizproblem im Sommer gefunden, das in Bürogebäuden ein größeres Problem darstellt als das Kühlproblem im Winter.

Um die Wärmelast weiter zu minimieren, haben wir versucht, den Alnatura Campus maximal zu entsiegeln. Zusätzlich haben wir darauf geachtet, dass wir nur mit hellen Oberflächen arbeiten, um den Albedo-Effekt möglich zu machen. Darüber hinaus haben wir auf dem Außengelände einen Retentionsbereich und eine Wasserhaltung geplant. Im Sommer verdunstet das Wasser an der Oberfläche und schafft auf diese Art eine zusätzliche Kühlung.

Ihr Architekturbüro trägt den Namen haascookzemmrich STUDIO2050. Was muss sich bis 2050 ändern, damit Architektur und Freiraumplanung ganzheitlich gedacht werden?

Das ist keine Vision mehr, sondern eine Notwendigkeit. Ich glaube, vielen Menschen ist inzwischen bewusst, dass für eine lebenswerte Zukunft Klimaanpassungen getroffen werden müssen. Wir erleben mittlerweile die Auswirkungen einer Vergangenheit, in der diese Themen nicht beachtet worden sind. In den letzten zehn Jahren ist das Bewusstsein für die Bauwende und die Freiraumwende deutlich gestiegen. Das Publikum bei den einschlägigen Foren ist breiter und diverser geworden, die Thematik hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Heute werde ich nicht mehr als Schöngeist hingestellt, wenn ich das Thema anspreche. Es ist mittlerweile ein bekanntes Problem. Und die Menschen erleben, was mit guter Freiraumgestaltung geleistet werden kann. Das kommt auch immer mehr in der Stadtplanung an. Da Städte mittlerweile miteinander um Fachkräfte und Familien konkurrieren, müssen sie diesen Gruppen einen Mehrwert bieten, und das geschieht durch eine Verbesserung des Lebensumfelds. Auch hier spielt die Freianlage eine ganz wesentliche Rolle, da sie das prägendste Element des Stadtbilds ist.

Foto:
Frederik Laux

BIOGRAFIE

Martin Haas
Freier Architekt BDA, Mitbegründer des DGNB
Miller Chair University of Pennsylvania, Philadelphia USA
haascookzemmrich STUDIO2050, Inhaber

Als Partner im Büro Behnisch Architekten war Martin Haas von 1997-2012 unter anderem für die Nord/LB in Hannover, das Haus im Haus, die Unilever Zentrale und den Marco Polo Tower in Hamburg sowie für das Ozeaneum in Stralsund verantwortlich. Den Schwerpunkt seiner Arbeit legt Haas auf die Entwicklung innovativer und nachhaltiger Architektur. Nach 6 Jahren der Partnerschaft gründet Haas, zusammen mit David Cook und Stephan Zemmrich, im April 2012 sein eigenes Büro „haascookzemmrich STUDIO2050“ mit Projekten im In- und Ausland. Als Mitbegründer des DGNB ist Martin Haas Mitglied des Präsidiums und seit 2013 deren Vizepräsident. Seit 2008 hat er eine Gastprofessur an der University of Pennsylvania in Philadelphia, USA, inne. Haas ist seit 2020 Mitglied des Gestaltungsbeirats in Offenbach und seit 2023 in Konstanz. Seit 2020 ist er ehrenamtliches Mitglied des Konvents der Baukultur.

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Thema
# Gesellschaft # Klima # Stadtgrün # Verkehr

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