Die Stadt als Zukunftslandschaft.
100 Jahre neuer Siedlungsbau
Der 100. Geburtstag des Weissenhofs ist Anlass für die internationale Bauausstellung 2027, die ich kuratieren darf. Die Weissenhofsiedlung markierte den Beginn des Siedlungsbaus mit der Idee, dass die Städte unreguliert und chaotisch seien und deshalb neu gedacht werden müssten. Im Sommer 1926 beschloss der Gemeinderat von Stuttgart den Bau einer Experimentalsiedlung und betraute Ludwig Mies van der Rohe mit der Leitung. Die Gebäude entstanden mit industriellen Mitteln und in kürzester Zeit. Das Ensemble sollte den Lebens- und Freiraum des „modernen“ Menschen darstellen. Nur ein Jahr später, im Sommer 1927, demonstrierte die Werkbundausstellung mit dem Titel „Die Wohnung“ die neuen Konzepte auf dem Killesberg in Stuttgart. Der Weissenhof war ein Manifest der Funktionstrennung, das bis in die Gegenwart wirkt.
Integrativere Ideen – wie etwa das Familistère im französischen Guise –, wo schon Mitte des 19. Jahrhunderts die industrielle Produktion mit genossenschaftlichen Modellen und dem Alltag der Arbeitenden verbunden wurde, blieben exotische Ausnahmen. Ebenso die kollektivistischen Experimente in der jungen Sowjetunion.
Während und nach der Moderne entmischten sich die Städte. Die neuen Ideen waren sauber in Baurecht gegossen und ordentlich in Nutzungskategorien unterteilt: in Wohn-, Gewerbe- und Industriegebiete. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg verwandelten sich immer mehr Innenstädte in Fußgängerzonen für ungestörten Konsum und kulturelle Nutzungen.
Diese räumliche Konfiguration schwappte flächendeckend ins Land und verfestigte sich im Planungs-, Bau- und Steuerrecht. Heute generiert das hässliche Gewerbegebiet die lokalen Steuern, das Wohngebiet beherbergt das Stimmvolk, und in der prekären Ortsmitte kämpft der Einzelhandel ums Überleben (und der Heimatverein trauert um die verloren gegangene ländliche Identität). Gigantische Verkehrsinfrastrukturen erschließen und verbinden diese unterschiedlichen Räume.
Gebautes Scheitern
Die Disziplin Städtebau versuchte, neue städtische Räume zu schaffen, was ihr aber weder auf den Siedlungsgebieten gelang, die nahe bei den historischen Zentren lagen, noch mit den Großsiedlungen, die als Trabanten die Innenstädte entlasten sollten. Erst als die Siedlungsteppiche begannen, aneinanderzustoßen und Stadt und Land immer stärker verschmolzen, setzte ein Diskurs ein, der das neue Gebilde als Ganzes zu verstehen und zu benennen versuchte: Agglomeration, Zwischenstadt, Randstadt oder Metropolitanraum. Diese Gebiete sind meist ungeliebt, werden als städtebaulicher Fehler oder als hoher, aber notwendiger Preis für Wachstum und Wohlstand angesehen.
In den besonders dicht besiedelten Gebieten Europas – in der kleinteiligen Schweiz sowie den Niederlanden und Belgien –, wo dieser Patchworkteppich schon seit Längerem wächst, entstand in den letzten Jahren ein neues Selbstbewusstsein: Kann diese neue Raumkategorie eine eigene, besondere Qualität entwickeln? Auch dann, wenn der Versuch, die Natur zu schützen, vielerorts gescheitert ist? Ist es nicht abschätzig, von „Siedlungsbrei“ zu sprechen, wenn dieser der Lebensraum einer Mehrheit der Menschen ist? Welches sind die Schlüssel, um dieses hochkomplexe Gebilde, das eher durch Zufall und Marktkräfte entstand als von gestaltender Hand, in eine erfolgreiche Zukunft zu führen?
Lokale Lösungen für Ressourcenkreisläufe
Zuerst ist das „pragmatische Empathie“ und dann Freiraum. Lange standen die Städte bezüglich Ressourcen in einem Austauschverhältnis mit dem Land. Von dort kamen Nahrung, Wasser und Energie. Im Austausch dafür erhielten die ländlichen Gebiete Sicherheit, Administration, Produkte und Abfall. In einem weitgehend urbanisierten Raum funktioniert das nicht mehr, die Ressourcenkreisläufe müssen lokal geschlossen werden.
Die Stichwörter dazu sind Urban Gardening, grün-blaue Infrastruktur, Mobilitätswandel, Kreislaufwirtschaft und Klimaadaption. Diese Themen sind in der Stadt angekommen. Allerdings hat das Urban Gardening sein wirtschaftliches Potenzial noch nicht bewiesen.
Wird um einzelne Bäume gekämpft und über bauliche Dichte versus Freiraum gestritten, verwechselt man häufig Klimaschutz und Klimaadaption. Der Flächenanteil der städtischen Begrünung ist zu klein, als dass sie einen echten Effekt auf den Klimaschutz hätte; ihr Potenzial ist für das Ökosystem zu gering. Südlich gelegene Städte wie beispielsweise Madrid zeigen aber eben sehr wohl auf, dass Baumalleen, entsiegelte Flächen, freigelegte Gewässer und die Gebäudeschatten großer Häuser mit hoher baulicher Dichte den Aufenthalt in heißen Klimazonen erträglich machen können.
Im weiteren Umfeld der Zentren sieht das völlig anders aus. In versiegelten Gewerbegebieten, der industriell ausgeräumten Landwirtschaft und in ausgedehnten Vorortsiedlungen besteht ein großes ökologisches Aufwertungspotenzial, das in mehreren Dimensionen wirkt. Hier kann erneuerbare Energie in relevanten Mengen erzeugt werden, hier liegt der Schlüssel für eine nachhaltige Mobilität, hier kann landwirtschaftliche Produktion sowohl effizient als auch klimaregulierend sein. Und selbst in den ungeliebten Einfamilienhausgebieten gibt es genügend Dach- und Abstandsflächen, um Selbstversorgung und Biodiversität zu ermöglichen.
Hin zur Stadt als Zukunftslandschaft
Wenn wir die Metropolitanräume beherzt als neue Landschaft begreifen, als vom Menschen geschaffen, aber nach bioökologischen Prinzipien gestaltbar, wenn wir nicht mehr schöne Inseln als Parks und Innenstädte als erstarrte Denkmäler in einem Meer der Gleichgültigkeit pflegen, sondern die Schönheit auf den Parkplätzen vor den Einzelhandelsflächen, in den Gewerbegebieten und den verschiedenen Siedlungsmustern der Vorstädte suchen, lösen wir uns vom verengten Blick auf die Innenstädte und werden zu Gärtnern eines neuen großen Raums: der Stadt als Zukunftslandschaft.
100 Jahre nach dem Weissenhof arbeitet die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart an diesem Bild. Ausgedehnte Gewerbeflächen, ehemalige Industriegebiete, Infrastrukturen wie Großkliniken und Bildungscampi aus den sechziger Jahren und Wohnsiedlungen am Siedlungsrand sind die Schauplätze dieser Transformation. Dabei zeigt sich allerdings, dass der Weg lang und beschwerlich ist.
Neben technischen und gesetzlichen Hindernissen können die Vorstellungen in den Köpfen der Menschen nur mit viel Überzeugungskraft verändert werden. Doch genau dazu ist ein experimentelles Format wie eine IBA ein wertvolles Instrument. Vor Ort, in beharrlichen Diskussionen und mit dem guten Argument der Dringlichkeit des Wandels unternimmt sie erste Schritte in eine nachhaltigere und schönere Zukunft. Sie schafft ein Bild der Region, in dem Nutzungen sich überlagern und Mensch und Natur neue Synergien finden.
Diese Stadtlandschaft der Zukunft braucht keine Utopien von Abriss und Wiederaufbau, keine grünen Hochhäuser mit technisch aufwändigen Bewässerungssystemen, sondern eine Rückeroberung und Entsiegelung des städtischen Bodens, eine Inwertsetzung der Gebäude als Teil eines Ökosystems und eine starke planerische Hand, die das Gemeinwohl schützt. Dass dies gelingen kann, will die IBA in der Stadt Stuttgart und in der Region mit ihren innovativen Projekten beweisen: Die Umgebung der Ersatzneubauten von genossenschaftlichen Wohnbauten in Stuttgart-Rot und Münster wandelt sich vom Abstandsgrün zu einem vielfältigen Lebensraum,in Schorndorf entsteht auf der weitgehend versiegelten Fläche des ehemaligen Werkhofs ein dichtes und sozial integratives Quartier, und bei der Umnutzung und Erweiterung der Neckarspinnerei scheint – nach über 150 Jahren Textilproduktion – das Ziel einer energetisch und ökologisch positiven Bilanz erreichbar.
Wenn jetzt der Wertekompass neu geeicht wird und ein Konsens über eine zukunftsfähige Entwicklung entsteht, könnten unfruchtbare Kontroll- und Bewilligungsmechanismen sowie eine Misstrauenskultur, die die Planung vergiftet, einem konstruktiveren, zielorientierten Dialog weichen. Das Ziel, mit immer mehr Regulation Qualität zu erreichen, ist auf jeden Fall gescheitert. Dies ist das beste Argument, um mit Vertrauen in eine neue Form von „Gründerzeit“ aufzubrechen. Eine Gründerzeit, die sich nicht „retro“ orientiert und sich der sozialen Verwerfungen der ersten Gründerzeit bewusst ist, aber die Fragmente einer turbulenten Geschichte in nachhaltigen Lebensraum überführt.
BIOGRAFIE
Andreas Hofer studierte Architektur an der ETH Zürich und war dort Partner im Planungs- und Architekturbüro Archipel. Als Architekt engagierte er sich für den genossenschaftlichen Wohnungsbau bei der Verbandsarbeit und als Berater. Aus dieser Tätigkeit entstanden die Genossenschaften Kraftwerk1 und „mehr als wohnen“. Hofer publiziert regelmäßig in verschiedenen Medien, begleitet als Jurymitglied regelmäßig Wohnbauprojekte und engagiert sich in der Lehre. Seit Anfang 2018 ist er Intendant der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27).