Warum brauchen wir eine Freiraumwende?
Geschäftsführender Vorstand DGNB e.V.
Zustand der Städte
In einer Talkshow prangerten Sie den Zustand unserer Städte an und sagten unter anderem, diese seien zu laut, zu heiß und böten zu wenige Orte für soziales Miteinander. Wen und was benötigen wir denn für eine „Freiraumwende“ analog zur Bau- und Verkehrswende?
Wir brauchen ein anderes Verständnis für den Wert und für die Verantwortung von gut gestalteten Freiräumen und Flächen in unseren Städten. Gerade in Zeiten des Klimawandels und der zunehmenden Urbanisierung ist eine „Freiraumwende“ dringend notwendig. Darunter fallen Maßnahmen zur Klimaanpassung, beispielsweise um gegen Starkregenereignisse gewappnet zu sein und um Hitzeinseln in den Städten zu vermeiden. Das geht Hand in Hand mit dem steigenden Bedarf an Freiräumen, in denen Menschen ihre Freizeit und Pausenzeiten verbringen können und in denen sie sich gerne aufhalten. Eben gut gestaltete Freiräume, die dazu einladen, sich zu begegnen und soziale Kontakte zu pflegen – und die stimulierend und gesundheitsfördernd für alle Altersgruppen sind.
Förderung der Biodiversität
Das nachhaltige Bauen trägt die DGNB schon im Namen. Welche Rolle spielen dabei die Freiräume und Außenflächen als Teil der „gebauten Umwelt“?
Das ist ein zentrales Thema, welches wir in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus genommen haben. Zunächst in den Kriterienkatalogen der Gebäude- und Quartierszertifizierung und nun auch mit einem eigenen System für biodiversitätsfördernde Außenräume. Neben dem Schutz und der Förderung der Biodiversität als wichtige Lebensgrundlage für uns Menschen werden in den Zertifizierungssystemen beim Thema Freiräume auch Maßnahmen zur Klimaanpassung und zur Schaffung sozialer Qualitäten abgebildet und gefördert.
Mit besagtem DGNB-System für biodiversitätsfördernde Außenräume wurde in Ihrem Haus eine Zertifizierung entwickelt, die vor allem für urbane Quartiere gedacht ist. Inwiefern kann eine ganzheitliche Planung hier zum Schutz von Tier- und Pflanzenarten beitragen?
Wir müssen systemisch mit den Flächen umgehen, die wir zur Verfügung haben. Es geht um Ausgewogenheit, bewusstes Planen, das Zusammenspiel zwischen Flora und Fauna, Wasser und Boden. Dadurch lassen sich Synergien zu Klimawandelanpassung und Klimaschutz ausschöpfen. Hinzu kommt, auf die Bedeutung der weiteren Pflege hinzuweisen und diese kommunikativ zu begleiten. Heute sehen wir noch viel zu viele Lösungsansätze, die nur auf ein Thema fokussieren und dann die Potenziale der Flächen, die unter Umständen biodiversitätsfördernd gestaltet werden können, nicht richtig ausschöpfen oder aktivieren. Das ist aber elementar wichtig, um langfristig einen Nutzen zu generieren. Wir haben das System gemeinsam mit der Bodensee-Stiftung entwickelt, die sehr viel Erfahrung und Expertise im Bereich der Biodiversität eingebracht hat.
Ganzheitlich nachhaltige Gebäude
Gibt es Ihrer Kenntnis nach schon Leuchtturm-Projekte, bei denen Gebäude- und Freiraumplanung vorbildlich ineinandergreifen?
Ja, die gibt es. Ein herausragendes Beispiel ist das Büroprojekt Alnatura Arbeitswelt des Stuttgarter Büros haascookzemmrich STUDIO2050 in Darmstadt. Das ganzheitlich nachhaltige Gebäude mit Stampflehmfassade ist von einer ebenso nachhaltigen Außenanlage umgeben. Ramboll Studio Dreiseitl haben die Flächen als blau-grüne Infrastruktur konzipiert und für die Mitarbeitenden, Besucherinnen und Besucher vielfältige Aufenthaltsbereiche in der Natur gestaltet. Das Projekt wurde 2019 mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur ausgezeichnet, den wir gemeinsam mit der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis vergeben.
Ein schönes Beispiel zum Thema Wohnen ist die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Ingolstadt GmbH, die sich in ihrem umfangreichen Leitsatz zur Nachhaltigkeit auch der Biodiversität verpflichtet hat. Die Grünflächen der eigenen Immobilien sind nicht nur öffentlich zugänglich, sondern auch biodiversitätsfördernd gestaltet. Auch ganze Städte wie beispielsweise Augsburg setzen ihre Biodiversitäts-Strategien vorbildlich um. Ganz wichtig in diesem Bereich ist, von Anfang an für Akzeptanz und Wertschätzung unter den Bürgerinnen und Bürgern zu sorgen. Die auf den ersten Blick wild wirkenden Flächen einer biodiversitätsfördernden Gestaltung sind nicht für jeden schön und zunächst ungewohnt. Wer versteht, um was es dabei geht und wie wichtig diese Maßnahmen sind, kann besser damit umgehen und vielleicht auch die Schönheit darin erkennen.
Förderprogramme allein reichen nicht aus
Sollte das Thema Freiraumplanung auch verstärkt auf die politische Agenda kommen, und brauchen wir dafür mehr Fördermittel?
Auf jeden Fall gehört das ganz oben auf die politische Agenda. Gerade wenn es um unsere Flächenziele, den Erhalt der Biodiversität und die Anpassung an den Klimawandel geht, müssen wir das Thema viel mehr in den Fokus bringen. In der Förderung und bei der Bereitstellung öffentlicher Mittel ist das schon angekommen. So setzt das „Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz“ (ANK) der Bundesregierung auf eine gezielte Förderung, um finanzielle Anreize für die freiwillige Umsetzung entsprechender Maßnahmen zu schaffen.
Das KfW-Umweltprogramm „Natürliche Klimaschutzmaßnahmen“ bietet Unternehmen sowohl einen günstigen Zinssatz als auch einen Tilgungszuschuss für biodiversitätsfördernde Ansätze. Kommunen haben die Möglichkeit, über das Förderprogramm „Natürlicher Klimaschutz in Kommunen“ Zuschüsse zu erhalten. Zudem fördert das Bundesumweltministerium im Rahmen des Bundesprogramms Biologische Vielfalt herausragende Konzepte und innovative Projektideen, die dem Schutz der nachhaltigen Nutzung und der Entwicklung der biologischen Vielfalt dienen. Darüber hinaus können Kommunen eigene Fördermittel für private Bauherren zur Verfügung stellen oder aber über Vorgaben im Bebauungsplan arbeiten.
Könnten Sie zum Abschluss kurz skizzieren, was Ihrer Meinung nach in Zukunft lebenswerte Städte und urbane Regionen auszeichnen wird und worin die Herausforderungen einer entsprechenden Freiraumplanung liegen?
Lebenswerte Städte und Regionen zeichnen sich durch ein sinnvolles Miteinander von Gebäuden und Freiräumen aus. Es sind Orte, an denen sich unterschiedliche Menschen begegnen, gemeinsam feiern und einen Teil ihres Lebens verbringen. Es sind Orte, die verbinden – sowohl räumlich als auch sozial – und die durch kurze Wege die Aktivität, Teilhabe und eine nachhaltige Mobilität fördern. Das Leben fließt zwischen Innen- und Außenräumen, und die Natur hat einen gleichwertigen Raum in unseren Städten. Die größte Herausforderung ist dabei sicher die Klärung der Besitzverhältnisse und Zuständigkeiten, wenn es darum geht, wer welchen Freiraum wie gestalten darf oder sollte.
Förderprogramme allein reichen aber noch lange nicht aus, um ans Ziel zu kommen. Das Wahrnehmen und Nutzen von Synergien im Freiraum muss gängige Praxis werden. Dazu zählen neben der Biodiversität auch die Klimaanpassung, soziale Funktionen, Mobilität, Teilhabe und Inklusion.
BIOGRAFIE
Dr. Christine Lemaitre studierte Bauingenieurwesen an der Universität Stuttgart. Nach einem beruflichen Aufenthalt in den USA war sie ab 2003 am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart und anschließend in der Privatwirtschaft tätig. Im Januar 2009 übernahm sie die Leitung der Abteilung System bei der DGNB, deren Geschäftsführender Vorstand sie knapp ein Jahr später wurde.